Unsere Weltsicht ist durch Paradoxa gekennzeichnet

Türkises Wasser schimmert durch Nadelbäume

Unsere Weltsicht ist durch Paradoxa gekennzeichnet. Sie erschweren die dringend notwendige kulturelle Revolution hin zu einer nachhaltigen Lebensweise. Wir leben in einer Welt nie in der Geschichte gekannter globaler und regionaler Interdependenzen.

Die Sozialtheorien, vor allem jene der Wirtschaftswissenschaften mit ihren Wurzeln im 18. Jhdt., gehen aber vom singulären Individuum aus, das zudem als sublimer Egoist gedacht wird.

Die Spannung zwischen dieser Realität globaler Vernetzheit von nunmehr 7,5 Mrd Menschen und diesem individualistischen Selbstverständnis könnte größer nicht sein.

Dass wir in unglaublich dichten sozialen und naturalen Bezügen leben, bedeutet auch, dass wir in nie gekanntem Ausmaß auf Andere angewiesen sind. Wir blenden in einer Art Zeitlosigkeit auch aus, dass unser soziales Leben sich nicht nur der gegenwärtigen sondern vielen Generationen vor uns verdankt. In diesem Sich-Verdanken durch die Zeit hin gründet zugleich die Verpflichtung, die übernommene Kultur und die empfangene Natur zu pflegen und weiter zu tradieren – an kommende Generationen.

Dies bringt mit sich die soziale Verpflichtung zu Solidarität und Gerechtigkeit, die beide für die gängigen Wirtschaftstheorien bestenfalls eine Art Nebenprodukt, wenn nicht überhaupt eine Unsinnigkeit, darstellen. Umweltschäden, vor allem der Klimawandel, betreffen am stärksten die ärmsten 20% der Weltbevölkerung. In der Nachhaltigkeitsdebatte geht es demnach nicht mehr nur um die zukünftigen Generationen, sondern auch um die gegenwärtige Generation in anderen Weltteilen. Es sind die im Süden lebenden sozial Schwachen des Planeten, die elendig wenig konsumieren und die von den ökologischen Schäden des Konsums der Anderen am härtesten getroffen werden. Dies ist eine eklatante Ungerechtigkeit, die überdies friedensgefährdend ist.

Das dritte, wohl eigenartigste Paradoxon.

Gängige Theorien und damit mehr und mehr auch unsere Weltsicht blendet die Endlichkeit aus, jene der Natur wie auch des eigenen Lebens.

Natur kommt von nasci, was so viel bedeutet wie Geborenwerden. Zur Geburt gehört das Vergehen. Natur steht immer unter dem Vorbehalt der Endlichkeit. Es ist wohl die moderne Priorität des Mechanischen, der technisch induzierte Traum vom perpetuum mobile, das sich unendlich fortdreht, der zu diesem Verlust der Präsenz wesentlicher Realitäten führt. Die Illusion der Unendlichkeit entwertet jedoch, so scheint es, das, was da ist. Die Wegwerfkultur wird zum Ausdruck eines Überflusses, der nicht mehr als befreiend erlebt wird. Darin liegt die Tragik, da das, was anderorts fehlt und die Natur zerstört, nicht mehr als Gut erlebt wird.

Eine Versöhnung mit der Endlichkeit, sei es aus philosophischen oder spirituellen Quellen, der Wille, die Güter der Erde als Lebensmittel für alle zu verstehen und die Anerkennung unserer Interdependenzen sind die Grundlage für den Umbau einer Weltmaschine, die heute nur wenigen ein wenig Glück bringt und zugleich eine Spur der Zerstörung hinterlässt.

Eine Nachhaltigkeitskultur bedeutet, die die Kostbarkeit dessen, was ist, wahrzunehmen und zu pflegen.

Wir leben in einer höchst interdependenten Welt. Niemals waren wir so global in allen Lebensbereichen vernetzt wie heute. Die über den ganzen Globus gespannten medialen Netze, Unterseekabel und Satellitenverbindungen sind dafür der technische Ausdruck. Was provinziell geblieben ist, ist unser Denken und Handeln. Ja, mehr noch, es steht unter dem Postulat der individuellen progressiven Nutzenmaximierung.
Das Paradoxon, das sich daraus ergibt, ist, dass die globalen Interdependenzen von uns verlangen, den Planeten Erde als die eine Heimat des Menschen als homo sapiens anzuerkennen. Ein individualistischer Zugang trägt hier nur insofern als er von Verantwortung für das ganze bestimmt ist.


Dunkelhaarige Frau in orangem Kostüm lächelt freundlichÜber die Autorin

Ingeborg Gabriel, geboren 1952, ist eine römisch-katholische Theologin und Volkswirtin. Seit 1997 ist Gabriel Universitätsprofessorin für Christliche Gesellschaftslehre und Sozialethik an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien. Außerdem ist sie Direktorin der österreichischen Kommission Iustitia et Pax. Im Jahr 2015 sprach sich Gabriel für eine grundlegende Reform des Wirtschaftssystems aus.

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