Poesie,
eine Frage der Haltung

Der Kunstphilosoph Wolfgang Zumdick erzählt uns im Interview, wie Poesie und Verbundenheit zusammenhängen. Wir erfahren, warum eine ‚poetische‘ Haltung ansteckend ist, wie man „sozialen Honig“ produziert und warum Gedanken, die ökologische Vordenker wie Rudolf Steiner und Joseph Beuys angestoßen haben, aktueller denn je sind.

Poesie ist eine breite Klammer. Was bedeutet Poesie für Sie?

Poesie bedeutet für mich mehr, als Gedichte zu schreiben. Ein Freund von mir sagte einmal: „Poesie heißt in den Dingen sein“. Also verbunden zu sein, mit ganzer Kraft und Seele.

Neben dem Sinnlichen haben wir auch noch andere Wahrnehmungsfelder. Wir fühlen etwas, wenn wir dieser Welt begegnen. Wir haben Willenskräfte und wollen sie verändern. Wir können uns Dinge vorstellen. Wir können Situationen in voller Intensität aufnehmen und uns erinnern. An Gerüche, Stimmungen, Assoziationen. Aus diesem Zusammenspiel der sinnlichen und geistigen Wahrnehmung entsteht das Poetische.

Könnte uns dieser Wandel auch wieder näher an das heranrücken, was uns eigentlich als Menschen ausmacht? Uns sozial und sinnlich nähren?

Ich glaube, das muss es sogar, sonst werden wir vereinsamen. Manchmal habe ich das Gefühl, wir fliehen vor diesen Kräften, die uns lebendig machen. Im Frühjahr umgibt uns beispielsweise eine unglaubliche Energie. Und wir sind wie die Kaiser oder Könige, die alles um sich haben, aber nichts mehr schätzen können. Wenn wir aus der Verbindung zu diesen Kräften heraustreten, werden wir einsam.

Die revolutionärste Form des Handels heute ist es, wenn wir uns mit diesen schöpferischen Kräften, die uns überall umgeben, verbinden. Wir können andere Schulformen entwickeln, andere Formen des Miteinanders. Vielleicht auch Geschwindigkeit aus dieser Zeit herausnehmen, um uns wieder intensiver den Dingen zuzuwenden, die uns als Menschen ausmachen.

Wir könnten lernen, die Erde, auf der wir leben, wieder ein bisschen mehr zu lieben – und uns selbst. Das ist die große Chance, die in dieser ganzen Misere liegt.

Sie verwenden immer wieder den Begriff der „poetischen Haltung“. Lässt sich diese Haltung kultivieren?

Diese Haltung ist selbstverstärkend und überträgt sich. Am wichtigsten ist das bei Kindern. Sie sollen Freude an den Dingen, die sie umgeben, und am Erleben der Welt erfahren. Es geht um Intensität und Verbindung. Kinder brauchen einen geschützten Raum, in dem sie diese Liebe zur Welt entwickeln können. Die Haltung kommt von selbst.

Beuys hat immer wieder betont: „Wir brauchen freie Schulen.“ Er selbst hat als Lehrer nicht in die Intuition seiner Schüler*innen eingegriffen. Er hat sie ‚ich‘ werden lassen und auf dem Weg in die künstlerische Freiheit begleitet. Johannes Stüttgen, ein Schüler von Beuys, hat mal gesagt: „Wir wissen eigentlich gar nicht, was für tolle Hechte wir sind.“ Jede Persönlichkeit hat unglaubliche Kräfte, die variieren, sich ergänzen und ein Netzwerk bilden. Wir sind aufeinander angewiesen und sollten uns nicht kleinreden.

Halten Sie Poesie für leicht zugänglich, oder eher für etwas Elitäres?

Die Poesie war ein wichtiges Ferment in allen Kulturen. Überall wurde gesungen und getanzt. Das ist ein menschliches Bedürfnis. Das ist in der DNA der Menschen drinnen. Insofern ist jeder ein Poet, eine Poetin. Ich traue der Poesie sehr viel Eigendynamik zu.

Poesie ist selbstverständlicher Träger des Menschlichen. Unser Dasein ist auch ein rhythmisches Dasein. Das geht natürlich verloren in unserem aktuellen, mechanisierten Weltverhalten.

Sie wirken diesem „Verlust“ entgegen, indem Sie beispielsweise mit der Künstlerin Shelly Sachs in einer Ausstellung herausgefunden haben, wie man „sozialen Honig“ erzeugt. Können Sie dieses „Imkerwissen“ mit uns teilen?

Bienen erzeugen mit dem Honig eine Substanz, von der sie leben, die sie durch den Winter bringt, eine der kostbarsten Substanzen. Shelley Sachs sagt: „Wir können auch diesen sozialen Honig erzeugen, aber es ist nicht so einfach. Wir können Menschen verletzen, sie nicht wahrnehmen. Wir können sozial negative Dinge anrichten, bei uns selbst, bei Kindern und bei anderen.“

In dem Prozess der „Frametalks“ wurden Menschen eingeladen sich durch einen Holzrahmen hindurch über eine der fünf ‚Wirklichkeiten‘ (Liebe, Natur, Zukunft, Freiheit, Mensch) zu unterhalten. Es ging um einen tatsächlichen Austausch, der in die Substanz dieser Wirklichkeiten hineinführt. Es ging dabei um imaginatives Denken, aber auch ein aktives Zuhören, frei von Vorurteilen. Diese Begegnungen hat Shelley Sachs „sozialen Honig erzeugen“ genannt.

Der Rahmen wurde auch an verschiedenen Orten (in Kassel) aufgestellt, wodurch ein bestimmter Ausschnitt der Wirklichkeit sichtbar wurde. Ein Weltausschnitt, der Teil des Ganzen ist, was innerlich wachruft und lebendig werden lässt. Es hat zu den erstaunlichsten Ergebnissen geführt, wenn Menschen einfach nur ihre Wahrnehmung teilten.

In Amerika teilte die junge Poetin Amanda Gorman unlängst ihre Wahrnehmung der Realität bei der Angelobung des neuen US-Präsidenten. Wie interpretieren Sie den Erfolg ihres Gedichtes „the hill we climb“?

Da gibt es eine Parallele: Amanda Gorman ist die poetische Variante zu Greta Thunberg. Ich glaube das sind zwei Frauen, die genau das erkannt haben – dass es so nicht mehr weiter gehen kann. Und sie haben diese tiefe Intuition und Klugheit zu sagen: Leute, werdet wach. Und beiden ist es gelungen, Menschen aus dem Gefühl „Es läuft zwar nicht gut, aber es läuft trotzdem weiter.“ wachzurütteln, wodurch das Gefühl erweckt wird: wenn nicht jetzt, wann dann.

Es gibt Milliarden Stimmen von Menschen, die das auch hätten tun können. Aber die beiden haben ein ganz bestimmtes Charisma und eine ganz bestimmte Klugheit, die das erzeugt hat. Das sind großartige Phänomene. Man merkt, wie sich Paradigmen durch ganz kleine Bewegungen des Geistes wandeln können.

In Kürze erscheint ein neues Buch von Ihnen. Zu welchem Thema?

Es geht um den deutschen Aktionskünstler Joseph Beuys, die poetische Dimension und die Idee der Transformation. Darum welche Kräfte es heute braucht, um wieder auf die Beine zu kommen, um aus künstlerischer Sicht der Transformation eine Kraft zu geben, die so beispielsweise im politischen Diskurs nicht zu finden ist.

Dieses Jahr wäre Beuys 100 Jahre alt geworden. Er war einer der Ersten, die gesagt haben, dass wir an einem Punkt stehen, an dem wir so nicht mehr weitermachen können. „C’est la fin de la fin de latin“ (Wir sind am Ende vom Ende des Lateins).
Er wollte aufrühren, mit den verrücktesten Aktionen wachrütteln, z.B. in dem er einem toten Hasen die Kunst erklärte etc., und das alles, um einen romantischen Geist wieder wach zu küssen. Insofern war er ein großer Romantiker und Poet. Er sieht jeden Menschen als Künstler*in und Gestalter*in sozialer und ökologischer Zusammenhänge.

Was fasziniert Sie am zweiten visionären Vordenker, mit dem Sie sich intensiv beschäftigen, Rudolf Steiner?

Rudolf Steiner ist eine ganz entscheidende Kraft. Er wollte sich nicht damit zufriedengeben, alles ‚nur‘ mit dem Werkzeug des Verstandes zu erklären. Er hat sich Fragen gestellt: „Was ist Imagination? Was ist Inspiration? Was ist das Denken, das Fühlen und das Wollen?“ Er hat beschrieben, was auf der Gefühlsebene, der Willensebene, der gedanklichen Ebene etc. passiert. Wenn man seinen Impuls einmal verstanden hat, dann sieht man: er war auf einem guten Weg. Er hat Vieles gut erklärt, was einem die Welt – und sich selbst – durchsichtiger macht.

Seine Waldorfpädagogik baut darauf auf, dass Kinder in eine Sinneswelt hineingeworfen werden und reine Sinnlichkeit am Anfang steht. Um nicht zu überfordern, müssen ganz bestimmte Stufen der Entwicklung berücksichtigt werden, wobei der Verstand erst nach der Pubertät so richtig miteinsetzt. Er war ein guter Beobachter, und hat – während seiner Tätigkeit als Hauslehrer – beobachtet, was Kinder verschiedenen Alters brauchen. Steiner ist nie aus der Verbindung gefallen. Er hat etwas empfunden und erkannt, dass es auch an die Oberflächen kommen soll und kommuniziert werden muss.

Bräuchte Rudolf Steiners Werk eine Übersetzung in die Alltagsrealität des 21. Jahrhunderts?

Als ich zum ersten Mal Steiners Schriften gelesen habe, dachte ich: was ist das für eine Sprache? Zum Glück war Beuys da, der so schön modern war. Dieter Koepplin hat es so ausgedrückt: Beuys aktualisiert Steiner. Vermutlich gibt es auch auf der Alanus Hochschule – einer anthroposophischen, staatlich anerkannten Hochschule in Deutschland – Menschen, die den etwas barocken Geist Steiners übersetzen können. Meine Tochter hat dort beispielsweise „Wirtschaft neu denken“ studiert, ein Studiengang, der Kunst, Philosophie und Wirtschaft verbindet.

Am Ende des Tages ist Steiners Werk aber manchmal einfach harter Tobak. An manchen Stellen gelange ich an einen Punkt, wo es für mich nicht mehr nachvollziehbar wird. Das ist aber gar nicht so schlimm. Das geht mir auch bei Einstein so. Ich sehe aber, dass hinter dem, was ich nachvollziehen kann, ein kluger Gedanke, eine kluge Einsicht oder ein kluges Erleben stehen.

Rudolf Steiners umfassendes Werk wurde in einer Gesamtausgabe zusammengefasst, die auch online zugänglich ist.
Joseph Beuys wäre dieses Jahr 100 Jahre alt geworden. Wolfgang Zumdicks Texte und Bücher laden dazu ein, noch tiefer in die Welt rund um Beuys (und Steiners) Werk und Wirken einzutauchen. Rüdiger Sünner fasst Beuys künstlerisches Leben in seiner Dokumentation „Zeige Deine Wunde“ zusammen.


Über Wolfgang Zumdick

Wolfgang Zumdick

Dr. Wolfgang Zumdick ist Kunstphilosoph, Kurator und Autor. Aktuell baut er das Beuys-Cafes in Melbourne mit auf. Er ist Gastkurator der Ausstellung „Intuition“ zum Frühwerk Beuys, die ab 19.6.2021 im Museum des Kurhauses Kleve zu sehen war.

Sein jüngstes Buch ist in Zusammenarbeit mit Volker Harlan entstanden: „Mit Beuys Evolution denken“. Aktuelle Vorträge sind auch online nachzusehen („Der Tod hält mich wach“ Skulpturenpark Waldfrieden, „Hiermit trete ich aus der Kunst aus – Joseph Beuys“ Goethe-Institut Warschau)

Quelle: Interview mit Wolfgang Zumdick am 23.4.2021
Artikel der Redaktion

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