Nose to tail – die ganzheitliche Verwertung von Tieren

Kuh steht in kühler Steppe
Caidamu © Werner Lampert GmbH, Foto Ramona Waldner

Wirft man einen Blick in die Kochbücher unserer Kindheit, wird schnell klar, dass es noch nicht allzu lange her war, dass ausnahmslos alle Teile eines Tieres selbstverständlich gegessen wurden. Mittlerweile sind Beuschel, Ochsenmaulsalat, geröstete Leber, Kutteln, Kopffleisch-Geschnetzeltes etc. weitgehend von unserem Menüplan verschwunden.

Sind wir diesbezüglich heikel geworden? Oder einfach nur bequem? Haben wir verlernt diese Dinge schmackhaft zuzubereiten? Ist Fleisch an sich zu billig? Oder haftet diesen Rezepten ein schwer abzuschüttelnder, schaler Beigeschmack an, der uns kulinarisch ins soziale Aus manövriert? Wie stark würden sich die Reihen in unserem Freundeskreis lichten, wenn wir statt zur üppigen Steak-Grillerei zum gekochten Saurüssel-Essen einlüden?

Wieviel ist zuviel des Guten?

Vermutlich befeuern all diese Fragen die aktuelle Blüte der Steak- und Filetkultur. Was uns nicht tangieren müsste, käme diese ‚Blüte‘ nicht mit einem ungeheuren Rattenschwanz an sozialen und Umweltproblemen (z.B. Landraub, Regenwaldzerstörung und Vertreibung indigener Völker etc.) daher.

Brasilien ist weltgrößter Sojaproduzent. Gleichzeitig steht das Land durch zunehmende Mangelernährung kurz davor, wieder in der „Weltkarte des Hungers“ (FAO) aufgenommen zu werden. Und auch ein Drittel der in Österreich verfütterten Soja-Futtermittel stammen aus Brasilien.

Dilemma raus, Genuss rein

Ein nicht unbedingt populärer Weg, um diesen Problemen zu begegnen, wäre unseren Fleischkonsum zu überdenken. Seit 1970 hat sich der Fleischkonsum weltweit verdreifacht und liegt in Industrieländern bei unglaublichen 82 kg pro Person und Jahr. Damit schießen wir meilenweit über das gesunde Maß hinaus, welches die österreichische Gesellschaft für Ernährung mit maximal 2-3 Fleischportionen pro Woche beziffert.

Ein weiterer Weg wäre, den Tieren, die wir essen, den vollen Respekt zu zollen. Was hieße, sie wieder von der Schnauze bis zum Schwanz zu verwerten. Und genau in diese Kerbe schlägt der an Beliebtheit langsam gewinnende Trend der „nose-to-tail“ Verwertung. Wer sind die Vorreiter dieses Trends der ganzheitlichen Verwertung in Österreich?

Einige tollkühne GastronomInnen nehmen Landwirten beispielsweise wieder ganze Tiere ab. Kreativ experimentieren sie mit neuen Interpretationen ‚alter‘ Rezepte, um auch weniger klingende Fleisch- und Innereiengerichte an Mann und Frau zu bekommen (siehe Interview mit Bio-Haubenkoch Jeremias Riezler).

Aber auch heimische Bio-Marken nehmen die ganzheitliche Verwertung wieder stärker ins Visier. Die Bio-Marke ‚Zurück zum Ursprung‘ verschreibt sich der ganzheitlichen Verwertung dadurch, dass eine möglichst breite Palette, der bei der Schlachtung anfallenden Fleischteile, im Supermarktregal landet. Der Gedanke der Ganzheitlichkeit geht hier so weit, dass auch die oft tabuisierte ‚männliche Nachkommenschaft‘ von Ziege, Schaf, Huhn und Rind artgerecht aufgezogen wird und ebenfalls verwertet wird.

Initiativen wie „Hahn im Glück“ versuchen auch bei den KonsumentInnen das Bewusstsein für diese Problematik zu schärfen und alle Karten offen auf den Tisch zu legen. Wo Eier produziert werden, muss sich – ganzheitlich gedacht – auch um die kleinen Hähne gekümmert werden. Wo Milch getrunken wird, gilt es die Aufzucht der Kälber, Lämmer, Schafböcke und Ziegenkitze mit in den Blick zu nehmen.

„Ich kann so etwas nicht kochen…“

Um nose-to-tail gesellschaftlich zu Ende zu denken, sind also viele Akteure gefragt: ProduzentInnen, die bereit sind, männliche Jungtiere aufzuziehen. Der Handel, der bereit ist ein Fleischangebot abseits von bequemen „fast meat“ Rezepten im Sortiment aufzunehmen. Eine Gastronomie, die bereit ist, gegen die Windmühlen der Steak-Kultur anzukochen. Die Zeit, Herzblut und Kreativität in das Aufleben dieser Trends der ganzheitlichen Verwertung steckt.

Aber auch als KonsumentInnen des 21. Jahrhunderts können wir uns bei diesem Thema nicht einfach weg ducken, und dabei leise irgendetwas Fadenscheiniges wie „Ich kann so etwas nicht kochen…“ oder „Wozu die Mühe…“ in unseren imaginären Bart zu murmeln.

Haltung ist gefragt, liebe Mit-KonsumentInnen: wer Fleisch genießen will, ist aufgefordert hinzuschauen. Und sich womöglich an ein Rezept mit exotisch klingenden Fleischteilen heran zu wagen. Omas kulinarische Rezept-Schätze wieder zu beleben. Oder einfach statt zur Hühnerbrust beim nächsten Mal zum ganzen Huhn zu greifen.

Was von uns übrig bleiben wird: Hühnerknochen!

Noch in ferner Zukunft werden sich unsere Nachfahren über unseren heutigen Fleisch-Konsum wundern. Wissenschaftler sind sich sicher, dass Hühnerknochen das „Leitfossil“ unseres Zeitalters, des Anthropozäns, sein werden.

Womöglich grübeln unsere Nachfahren darüber, wie es dazu kam, dass der Großteil der Hühnerbrust-Knochen in den Deponien der nördlichen Halbkugel zu finden ist und der Großteil der Hühnerflügel und -beine aber in afrikanischen Deponien für die Nachwelt konserviert wurde?

Ob sie auch rekonstruieren werden, dass dadurch z.B. in Afrika durch Billigfleisch-Importe lokale Märkte zerstört wurden und weltweit die Verschwendung von Lebensmitteln befeuert wurde? Darüber können wir nur spekulieren.

Wenn wir Glück haben, werden sie aber anhand der künftigen Knochenfunde feststellen können, wann wir die globalen Auswüchse unserer Billigfleisch-Kultur erkannt und gestoppt haben. Und dazu übergegangen sind nur so viele Tiere, wie es Umwelt und Klima zulassen, verantwortungsvoll zu halten und mit voller Wertschätzung – von der Schnauze bis zum Schwanz – zu verwerten.


Portrait einer rothaarigen hübsche FrauÜber die Autorin

Dr. Sybille Chiari ist Teil des Redaktionsteams von „Nachhaltigkeit. Neu denken“ und beschäftigt sich seit vielen Jahren mit den Themen Nachhaltigkeits- und Klimakommunikation – forschend und schreibend. Sie ist Teil der Bewegung Scientists for Future und Obfrau des Vereins Bele Co-Housing (Gemeinschaftswohnprojekt mit biologischer, regenerativer Landwirtschaft www.belehof.at).

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