Ohne Kohärenz keine Nachhaltigkeit

Zynisch blickender Mann mittleren Alters mit leichter Glatze, rahmenloser Brille und Bart in Anzug un Fliege
©Henrike-Elsner

Ein Biss in einen frischen Apfel, ein Spaziergang durch blühende Äcker, ein gemütliches Essen mit der Familie – unsere Heimatregion hat viel für unser persönliches Seelenheil zu bieten. Doch ist dafür jeder empfänglich? Laut Henning Elsner braucht es eine bestimmte Voraussetzung: den Sense of Coherence. Ohne diesen fehlt uns die Verbundenheit zur Natur und unserer Mitwelt. Und ohne ihn gibt es kein nachhaltiges Handeln. Der Facharzt für Psychosomatik und Psychotherapie verrät warum.

Herr Elsner, Sie haben in Ihrer täglichen Praxis mit Menschen zu tun, denen das Gefühl für sich selbst abhandengekommen ist. Haben Sie dazu eine Patientengeschichte parat?

Henning Elsner: Da fällt mir ein 57-jähriger Mann ein, der mit Herzrhythmusstörungen und Todesängsten kämpfte. Er erlebte bereits früh in seiner Bindungsgeschichte Verunsicherung in seiner Familie – was dazu führte, dass er als Erwachsener immer allen Erwartungen gerecht werden wollte. Als sein Leben durch eine gescheiterte Ehe und berufliche Schwierigkeiten erschüttert wurde, verlor der Mann sein Bezugssystem. Die Fähigkeit, mit schwierigen Umständen und Krisen umzugehen, hatte er nicht erlernt. Ihm fehlte das Grundvertrauen in sich selbst – der Sense of Coherence. Dieser ist nach dem Salutogenese-Model des Medizinsoziologen Aaaron Antonovsky ein zentraler Faktor für Gesundheit. Als daher die konstruierte Welt des Patienten einbrach, war er dem Stress völlig ausgeliefert.


Ein nicht ausgeprägtes Kohärenzgefühl führt also oft zu Burnout und Stress – warum ist es auch Basis für nachhaltiges Handeln?

Elsner: Wer durch wichtige Bezugssysteme – wie Familie, Freunde oder Werte – ein Gefühl und eine Wertschätzung für sich selbst entwickelt hat, bildet automatisch Mitgefühl für seine Umwelt aus. Für die Menschen und für die Natur. Und wenn ich mich als wertvoller Teil des großen Ganzen begreife, beginnt nachhaltiges Denken und Handeln. Weil man plötzlich begreift, wie schön es ist, Äpfel vom Bauern nebenan zu essen. Zugespitzt formuliert: Auf einmal braucht man keine Shrimps mehr, sondern zelebriert seinen Mangold in zwei Farben auf dem Teller.


Gerade diese wichtigen Bezugssysteme scheinen heute oft nicht zu greifen. Welche Rolle spielt unsere Gesellschaft bei der Entwicklung des Kohärenzgefühls?

Mann mittleren Alters mit rahmenloser Brille und Bart und Kappe
©Henrike Elsner

Elsner: Anstelle im Wechsel der Jahreszeiten leben wir heute unter der Zeitpeitsche der Arbeitswelt. Wir erschaffen mit den Medien und dem Internet ein Paralleluniversum, das von den smarten Diktatoren und einem Konsum-Marketing-Monster beherrscht wird. Das vereinseitigt uns. Und statt Achtsamkeit und Einfühlungsvermögen regieren Schnelllebigkeit, Individualismus, Unterhaltungsindustrie und überflüssige Mobilität unser Leben. Auf der anderen Seite gibt es aber auch eine tiefe Sehnsucht nach menschlicher Nähe, Authentizität und einer Urverbundenheit zur Natur – gerade bei den jungen Menschen. So lassen sich auch Trends wie Urban Gardening oder das Bedürfnis nach regionalen Lebensmitteln erklären.


Da stellt sich die Frage: Kann man sein Kohärenzgefühl wiedererlangen und Nachhaltigkeit neu erlernen? Hat es zum Beispiel der Mann in Ihrer Patientengeschichte geschafft?

Elsner: Dieser Patient hatte tiefe Ressourcen: Er war fähig, durch Bewegung, Ernährung und die Natur eine Verbundenheit zu sich zu spüren. Er lernte wieder ein Verständnis für seine Körperreaktionen zu entwickeln. Eine anschließende Psychotherapie und ein Achtsamkeitstraining in der Gruppe holten ihn aus seiner Isolation heraus. Wenn wir nun für die Gesellschaft vorsorgen wollen, müssen wir uns fragen: Wie gelingt es uns ein Wertesystem zu schaffen, dass Mitgefühl, Mitmenschlichkeit und Sinn vermittelt? Hier gilt es meiner Meinung nach schon im Kindesalter anzusetzen. Zum Beispiel mit einem Unterricht, der Lust auf ein „Wir“ erfahrbar macht, eine Aussprachefähigkeit in Konfliktsituationen übt und Freude an ganzheitlichen Lösungen fördert. Wir brauchen einen Geschichtsunterricht, der mehr von gelingender Mitmenschlichkeit trotz widriger Umstände erzählt.


Gemeinsam mit weiteren deutschen Chefärzten machen Sie ja immer wieder auf die psychosoziale Lage der Gesellschaft aufmerksam. Was ist da Ihr Ansatz?

Elsner: Als Ärzte erleben wir seit Jahren die Zunahme psychischer und psychosomatischer Erkrankungen in Deutschland. Mit unseren Initiativen „Aufruf zur psychosozialen Lage in Deutschland“ (2010) und „Aufruf zum Leben“ (2016) wollen wir Menschen dazu ermutigen, den Kontakt mit sich selbst und der eigenen Seele zu bewahren. Daraus entstand auch das Buch „Seelenzeit“. Darin beschreiben 21 Chefärzte, wie sie selbst ihren Sense of Coherence pflegen. Denn nur weil wir als Mediziner arbeiten, sind wir dennoch Menschen mit Sorgen und Nöten.


Zeit für die Seele

Nur, wer mit der eigenen Seele verbunden ist, spürt, was es bedeutet, ein Mensch zu sein. Diese Ansicht vertreten die Autoren des Werks „Seelenzeit“. 21 Chefärzte geben Einblick in ihre persönliche Seelenzeit und möchten den Anstoß geben, sich selbst wiederzuentdecken. Mehr Informationen finden Sie auf: aufruf-zum-leben.de.

Und wie gelingt es Ihnen nun selbst Ihr Kohärenzgefühl zu bewahren?

Elsner: Ich muss gestehen, dass mein Sense of Coherence schon einmal besser war. (lacht) Das liegt vor allem daran, dass ich mit vier Töchtern und neun Enkeln privat sehr gefordert bin. Doch ich arbeite daran – das gelingt mir zum Beispiel, wenn ich an meinen Teich gehe. Dort kann ich still werden und zu mir finden. Das sind dann diese Sterntalermomente – wie ich sie nenne. Da gibt es nur mich, das Rauschen des Wassers und das große Ganze.

Mann mittleren Alters mit leichter Glatze, rahmenloser Brille und Bart in Anzug
©Henrike Elsner

Über Henning Elsner

Dr. Henning Elsner wurde 1954 in Kiel geboren. Er ist seit 2005 ärztlicher Leiter des Krankenhauses Lahnhöhe mit 202 Betten für psychosomatische Medizin und ganzheitliche Heilkunde in Lahnstein in Rheinland-Pfalz. Der Facharzt für psychosomatische Medizin und Psychotherapie sowie Allgemeinmedizin mit Homöopathie und Naturheilverfahren hat sich der ganzheitlichen Heilkunde und anthroposophischen Medizin verschrieben.

Quelle: Dieser Text ist die gekürzte Fassung eines Interviews mit Henning Elsner am 4. Oktober 2017.
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