Quo vadis Nachhaltigkeit? Wir brauchen frische Zugänge!

Mehrere Menschen sitzen aufgereiht an einer Tafel

Schmeckt der Begriff Nachhaltigkeit wie ein Butterbrot vom Vortag? Können wir überhaupt für Fische sprechen, wenn wir selbst keine sind? Und wie weit müssen wir in die Zukunft vorausschauen, wenn wir kommenden Generationen ein gutes Leben erhalten wollen? Beim ersten Nachhaltigkeitsforum in Langenlois in Niederösterreich im Oktober 2016 liefen die Köpfe heiß. Auf Einladung des Biopioniers und Nachhaltigkeitsexperten Werner Lampert, und moderiert vom Philosophen Konrad Paul Liessmann, diskutierten 13 Expertinnen und Experten aus den Geistes-, Sozial- und Naturwissenschaften über die Chancen und Grenzen von Nachhaltigkeit.

Teilnehmerliste


These 1: Nachhaltigkeit stößt in unserem Wirtschaftssystem an Grenzen

„Man kann das Konzept der Nachhaltigkeit nicht losgelöst von der Dynamik und der Funktionsweise einer modernen Wirtschaft diskutieren. Nachhaltigkeit stößt in diesem System immer an Grenzen – denn es kann nie wirklich nachhaltig werden.“

Mathias Binswanger, Ökonom, St. Gallen/Schweiz


© Bogenberger/ autorenfotos.com

These 2: Unsere Gesellschaft braucht ein neues Hoffnungsnarrativ

„Unsere Gesellschaft braucht ein neues Hoffnungsnarrativ. Eine radikale Revolution unserer Gesellschaft in Hinblick auf Nachhaltigkeit und Solidarität könnte uns dieses geben. Aber es sieht nicht danach aus, dass das auch geschehen wird.“

Philipp Blom, Schriftsteller und Historiker, Wien/Österreich

Info zu Foto: www.autorenfotos.com/autorenfotos/autoren-b/philipp-blom


These 3: Die mündige Seele kann uns mit dem großen Ganzen verbinden

„In einer entfremdeten Moderne haben wir uns selbst und die Teilhabe an der Erde verloren. Die mündige menschliche Seele kann dem Geist wieder Ereignisraum im Leib schaffen, damit der Mensch sich zukünftig der Entwicklung aller Lebenswelten hingeben kann.“

Henning Elsner, Mediziner und Psychosomatiker, Lahnstein/Deutschland


These 4: Wir müssen uns zur Gerechtigkeit verpflichten

„Die heute notwendige kulturelle Revolution verlangt die Anerkennung der rasant gewachsenen, sozialen wie naturalen Interdependenzen – und damit die Verpflichtung zur Gerechtigkeit unter den Bedingungen der Endlichkeit.“

Ingeborg Gabriel, Theologin, Wien/Österreich


These 5: In unserer Unbescheidenheit binden wir uns selbst die Hände

„Wir oszillieren zwischen dem Bewusstsein, Teil der Natur zu sein und eben nicht Teil davon zu sein, sondern wie Zoodirektoren darüber zu verfügen und zu wachen. Indem wir glauben, dass wir alles in der Hand haben, was die Erde betrifft, binden wir uns selbst die Hände.“

Andrea Grill, Biologin und Schriftstellerin, Wien/Österreich


These 6: Nachhaltige Politik muss die Zukunft offenhalten

„Wir müssen die Rahmenbedingungen für Nachhaltigkeit neu definieren. Es geht nicht um das Überleben des Menschen, sondern darum, das Lebenssystem des Planeten zu schützen. Nachhaltige Politik muss so strukturiert sein, dass sie die Zukunft offenhält.“

Eva Horn, Literaturwissenschafterin, Wien/Österreich


These 7: Erst in einer solidarischen Gesellschaft wird es Fortschritte geben

„Erst wenn wir zu einer solidarischen, partizipativen Gesellschaft werden, wird es Fortschritte in der Nachhaltigkeit geben. Dafür brauchen wir ein neues Verhältnis zur Verantwortung. Und wir müssen lernen, Beziehungen und ein Miteinander zu entwickeln.“

Werner Lampert, Nachhaltigkeitsexperte und Biopionier, Wien/Österreich


© Foto: Kulturwissenschaftliches Institut Essen (KWI), Fotograf Georg Lukas

These 8: Nachhaltigkeitspolitik ist ein Entwicklungs- und Friedensprojekt

„Es gibt politische Allianzen, einen gesellschaftlichen Unterbau und Pioniere des Wandels in den Unternehmen. Unter diesen Voraussetzungen kann Nachhaltigkeit ein Gegenpol zum allgegenwärtigen Dekadenzgeschrei werden.“

Claus Leggewie, Politologe, Essen/Deutschland


These 9: Der Begriff Nachhaltigkeit gehört geschärft

„Es gibt keine Nachhaltigkeit ohne Bildung von Traditionen. Diesem Widerspruch muss man ins Auge sehen, wenn man wissen will, warum Nachhaltigkeit in einer dynamischen, alle Kontinuitäten auflösenden Welt zu einer Phrase werden musste.“

Konrad Paul Liessmann, Philosoph, Wien/Österreich


These 10: Wir brauchen einen nüchternen Zukunftsoptimismus

„Worum es geht, ist, den alten Nachhaltigkeitsbegriff in eine selbstbewusste, materiell anspruchsvolle Zivilgesellschaft zu bringen, die keineswegs ihr Heil in Verzicht sieht, sondern in Entwicklung.“

Wolf Lotter, Journalist und Autor, Köngen/Deutschland


These 11: Die finale Katastrophe lässt sich nicht stoppen

„Nachhaltigkeit ist ein Konzept der Förderung des Generationenwohls innerhalb von Gemeinschaften, deren Angehörige einander in Solidarität verbunden sind. Auf globaler Ebene mutet eine solche Solidargemeinschaft bei der heutigen Weltlage aber weltfremd an.“

Peter Strasser, Rechtsphilosoph, Graz/Österreich


These 12: Erst das Fühlen verbindet uns mit der Welt

„Weil wir Lebewesen sind, existieren wir zuallererst im Fühlen. Wir brauchen einen neuen Zugang zu Nachhaltigkeit aus der Perspektive dessen, was es heißt, fühlend mit der Welt in Verbindung sein zu können.“

Andreas Weber, Biologe, Philosoph und Schriftsteller, Berlin/Deutschland


These 13: Was uns fehlt, ist eine positive Vision

„Nachhaltigkeit wird nicht mehr als gesellschaftspolitisches Thema, sondern vorrangig als Frage der Effizienz verstanden. Wir müssen uns von diesem verbrauchten Begriff verabschieden und eine neue, positiv ausgerichtete soziale Bewegung initiieren.“

Harald Welzer, Soziologe und Sozialpsychologe, FUTURZWEI Stiftung Zukunftsfähigkeit, Berlin/Deutschland


1)    Was meinen wir überhaupt, wenn wir von Nachhaltigkeit sprechen?

Die Wurzeln des Nachhaltigkeitsbegriffs reichen in die Forstwirtschaft des 18. Jahrhunderts zurück. Ist dieser heute noch brauchbar oder bereits „ausgelutscht“, wie es der Soziologe Harald Welzer provokant ausdrückte? In der Diskussion zeigte sich das ganze Meinungsspektrum – vom Bewahren eines bewährten Begriffs über dessen Neudeutung bis hin zu alternativen Namen wie Gerechtigkeit oder Zukunftsfähigkeit. Dass nachhaltig schon heute nicht gleich nachhaltig ist, veranschaulichte die Biologin und Schriftstellerin Andrea Grill am Beispiel unterschiedlicher Sprachen. So verweist das deutsche „Nachhaltigkeit“ auf das Halten, das französische „Resilience“ auf Spannkraft und Elastizität. Das italienische „Durevolezza“ und das holländische „Duresamheit“ betonen den Aspekt der Dauer. Der englische Begriff „Sustainability“ wird zuerst mit Zukunftsfähigkeit übersetzt und erst an zweiter Stelle mit Nachhaltigkeit.

2)     Ist der Blick auf unsere Kinder und Enkel ausreichend?

Nachhaltigkeit ist grundsätzlich immer auf die Zukunft ausgerichtet. Vereinfacht gesagt: Wir wollen als Menschen so handeln, dass unsere Kinder und Enkel noch eine lebenswerte Umwelt vorfinden. Aber ist das ausreichend? Müsste man nicht viel weiter vorausschauen und in der Dimension von Erdzeitaltern denken? Die Literaturwissenschafterin Eva Horn griff das derzeit heißdiskutierte „Anthropozän“ als das erste durch den Menschen geprägte geologische Erdzeitalter auf. Ihre Forderung: Da der Mensch das Lebenssystem auf der Erde verändere, sei er auch langfristig für den sich ändernden Zustand des Planeten verantwortlich. Anders der Politologe Claus Leggewie: Aus seiner Erfahrung sind konkrete Maßnahmen – beispielsweise zum Klimaschutz – nur durchsetzbar, wenn wir die nächsten ein bis zwei Generationen adressieren.

3)     Was passiert, wenn die Chinesen sich Zweitautos zulegen?

Dies berührte ein weiteres fundamentales Thema: Solidarität. Viele Schwellenländer gehen soeben den Schritt in die Mittelklasse. Eine wünschenswerte Entwicklung, die aber auch an Grenzen stößt.

„Wir haben heute in unseren Breitengraden 1,5 Pkw pro Einwohner, in China ist es erst 1 Pkw. Wenn alle so eine Verkehrsdichte haben wie wir, kollabiert der Planet“, erklärte die Theologin Ingeborg Gabriel.

Um Menschen in anderen Teilen der Erde den Aufstieg zu ermöglichen, müssten die industrialisierten Länder etwas von ihrem Wohlstand abgeben. Doch das wäre schwer durchzusetzen. Der Journalist Wolf Lotter mahnte Alternativen zu Verboten ein, um zu Nachhaltigkeit zu motivieren. Positive Erfahrungen schilderte der Biopionier Werner Lampert aus seiner Arbeit mit landwirtschaftlichen Produzenten.

„Wenn sich die Menschen mit Nachhaltigkeit beschäftigen, begreifen sie: Ich kann den Tieren nichts verfüttern, was ich den Menschen wegnehme. Ab dem Zeitpunkt ist Solidarität vorhanden.“

4)     Müssen wir wieder lernen, uns und andere zu spüren?

Die Bereitschaft zur Solidarität hängt wesentlich mit dem persönlichen Fühlen und Erfahren zusammen.

„Nur wenn ich etwas fühle, erfahre und glaube, dann lebe ich es“, betonte etwa Andrea Grill.

Der Mediziner Henning Elsner sieht die Lebendigkeit und das Fühlen als Defizite unserer Gesellschaft. Seine Überzeugung: Wir brauchen einen Kohärenzsinn, mit dem wir uns im großen Ganzen verorten können, um – verbunden mit den Kreisläufen der Natur – der Erde teilhaftig zu leben. Dies lasse uns die Welt wieder so wahrnehmen, „dass wir das, was um uns herum geschieht, ausreichend verstehen und auch beeinflussen können“. In eine ähnliche Kerbe schlug der Philosoph Andreas Weber mit seiner Forderung nach einer neuen Lebendigkeit, die an der Innenerfahrung der Menschen ankopple. Ein Beispiel seien ökologischen Allmenden: In ihnen werde Wirtschaften für den Einzelnen identitätsstiftend, woraus eine Teilhabe am großen Ganzen entstehe.

5)     Nachhaltigkeit und Kapitalismus – kann das überhaupt zusammengehen?

Aber sind nachhaltiges Handeln und ein kapitalistisches Wirtschaftssystem nicht Widersprüche per se? Ja, sagte der Ökonom Mathias Binswanger. Für ihn funktioniert dieses System nur, wenn das Wachstum weitergeht. Ein nachhaltiges Verhalten über Preise zu steuern, sei nicht möglich:

„Man wüsste klar, wo man hinmuss. Aber es lassen sich derzeit keine Preise durchsetzen, die das bewirken würden.“

Der Historiker Philipp Blom verwies darauf, was Europa großgemacht habe – ein Wirtschaftswachstum, das auf Ausbeutung beruhe. Und ironischerweise bringe uns genau dieses Prinzip jetzt an den Abgrund:

„Die, die wenig haben, wollen mehr. Und die, die viel haben, wollen ihre Privilegien behalten. Um wirklich etwas zu verändern, brauche es ein tieferes Umdenken.“

Und damit das passiert, ist aus Sicht von Blom noch mehr Leidensdruck erforderlich.

6)     Wie lassen sich Menschen erreichen und bewegen?

Am Ende bestimmte der praktische Rahmen den Nachhaltigkeitsdiskurs: Wie lässt sich Teilhabe bewirken, welche Prozesse eignen sich für die Mobilisierung von Menschen? Für den Rechtsphilosophen Peter Strasser spüren die Menschen, dass etwas nicht mehr stimme, wenn die Ungleichheit zu groß werde. Der Journalist Wolf Lotter ortete gar eine „Unkultur der Unaufrichtigkeit“, die sich etwa in der VW-Krise gezeigt habe. Auch der Ökonom Mathias Binswanger appellierte, zu sehen, dass die Leute unzufrieden sind.

„Dauernd werden Versprechungen gemacht und nicht erfüllt. Wir müssen uns mehr damit beschäftigen, was die Menschen unzufrieden macht.“

Die Anforderung ist daher, eine Plattform für ihre Bedürfnisse zu bieten und wieder Zutrauen zum System zu schaffen. Als positives Beispiel für einen politisch-partizipativen Prozess präsentierte der Soziologe Harald Welzer die von ihm mitbegründete „Initiative Offene Gesellschaft“ in Deutschland, die großen Zuspruch erfährt.

Gastgeber Werner Lampert zog seinen Schluss aus der Diskussion beim Nachhaltigkeitsforum Langenlois:

„Was notwendig ist, um eine Bewegung zu schaffen und um wirklich weiterzukommen, ist eine neue Form des Diskurses. Wir müssen lernen, miteinander anders zu sprechen, einander anzunehmen. Nur übers Annehmen werden wir die Menschen erreichen können.“


Erstes Nachhaltigkeitsforum Langenlois: Die Teilnehmerrunde

  • Mathias Binswanger, Ökonom, St. Gallen (Schweiz)
  • Philipp Blom, Schriftsteller und Historiker, Wien (Österreich)
  • Henning Elsner, Mediziner und Psychosomatiker, Lahnstein (Deutschland)
  • Ingeborg Gabriel, Theologin, Wien (Österreich)
  • Andrea Grill, Biologin und Schriftstellerin, Wien (Österreich)
  • Eva Horn, Literaturwissenschafterin, Wien (Österreich)
  • Werner Lampert, Nachhaltigkeitsexperte und Biopionier, Wien (Österreich)
  • Claus Leggewie, Politologe, Essen (Deutschland)
  • Konrad Paul Liessmann, Philosoph, Wien (Österreich)
  • Wolf Lotter, Journalist und Autor, Köngen (Deutschland)
  • Peter Strasser, Rechtsphilosoph, Graz (Österreich)
  • Andreas Weber, Biologe, Philosoph und Schriftsteller, Berlin (Deutschland)

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