Muss unser Zinssystem irgendwann zusammenbrechen? – Eine Analyse

Türme aus Euromünzen

Für viele sind Zinsen die Wurzel allen Übels: Sie treiben Schuldner in den Ruin, verteilen Vermögen zu den Falschen um und verursachen einen permanenten Wachstumszwang in der Wirtschaft – den ich jedoch bestreite.

Historisch betrachtet, wurde man durch die Erträge von Sparbüchern oder ähnlichen fix verzinsten, nahezu risikolosen Geldanlagen kaum reich. Viele Systemkritiker rechnen hingegen vor, wie durch den Zinseszinseffekt immer größere Vermögen immer schneller angehäuft werden.

Aus 100 Euro werden bei ununterbrochener Verzinsung irgendwann Millionen, dann Milliarden und schließlich absurd hohe Beträge, wo dann scheinbar offensichtlich wird, dass das Zinssystem nicht auf Dauer funktionieren kann, also nicht nachhaltig wäre.

Bei einem Zinssatz von 2% pro Jahr dauert es aber immerhin 466 Jahre bis aus 100 Euro eine Million wird und erst nach weiteren 348 Jahren wären die Nachfahren des Sparbuch-Eröffners Milliardär.

Das Entscheidende ist aber etwas, das bei solchen Rechnungen häufig vergessen wird: die Inflation – das Geld wird immer weniger wert! Nehmen wir an, dass es der Zentralbank gelingt, die Inflation nahe am Zielwert von 2% pro Jahr zu halten, dann sind die Erben in 466 Jahren zwar tatsächlich Millionär, können sich aber um die Million nicht mehr kaufen als der Anleger heute um die 100 Euro. Im Jahr 2479 kostet 1 Liter Bio-Milch 11 000 Euro, ein Mittagessen im Wirtshaus 100 000 Euro und eine Jahreskarte für die Wiener Linien 3,65 Millionen Euro.

Das Gedankenspiel soll zeigen, dass Zinsen, die gerade mal die Inflationsrate ausgleichen, nur scheinbare Erträge sind und daher unendlich lang gezahlt werden können. Das zusätzliche Geld kommt von der Zentralbank, die mit der Geldmenge die Inflation steuert.

Deutlich höhere Zinsen können z. B. mit Aktien erwirtschaftet werden. In den vergangenen Jahrzehnten waren im Durchschnitt um die 10% pro Jahr drin – wenn man die zeitweilig hohen Wertschwankungen aussitzen konnte.

10% pro Jahr ist deutlich mehr als das Wirtschafts- und Geldmengenwachstum. Wenn die Erträge dauerhaft bei 10% pro Jahr blieben, könnten irgendwann tatsächlich keine realen Werte und kein Geld mehr da sein, um die Ansprüche der immer reicheren Aktionäre zu erfüllen. Das System würde zusammenbrechen, so wie es viele Zins- und Kapitalismuskritiker voraussehen.

Was aber tatsächlich passieren würde, ist etwas anderes: Durch den zunehmenden Überschuss an Anlagekapital sinken die Erträge. Es ist ja niemand verpflichtet, Schulden zu machen, damit die Vermögenden zu ihren Zinsen kommen. Unternehmen nehmen nur dann Kapital auf, wenn sie es so investieren können, dass sie das Geld samt Zinsen zurückzahlen können und noch ein Gewinn übrig bleibt.

Diesen Überschuss an Anlagekapital gibt es heute bereits! Der Volkswirt Gunther Tichy macht ihn für die große Finanzkrise 2008 verantwortlich. Nicht (nur) die Gier der Banker und Investoren hat unser Finanzsystem an den Rand des Abgrunds gebracht sondern die Jagd nach Erträgen, die gar nicht auf seriöse Weise erwirtschaftet werden können, weil es für die seriösen Investitionen bereits mehr als genug freies Geld auf der Welt gibt.

Selbst wenn niemand mehr einen Kredit haben wollte, würde unser Zinssystem nicht zusammenbrechen: Die Ersparnisse könnten dann bei der Zentralbank angelegt werden. Diese kann Zinsen „aus dem Nichts“ gutschreiben. Dadurch kommt es zu der gewollten Inflation.

Wie man es auch dreht und wendet, ich sehe keine Möglichkeit, wie man für unsere unnachhaltige Lebens- und Wirtschaftsweise die Zinsen verantwortlich machen könnte.


Über den Autor Mario Sedlak
1975 in Wien geboren, 2000 Abschluss des Studiums der Technischen Mathematik an der TU Wien, seit 2008 Fachexperte in der Stromwirtschaft
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